Entwicklungspsychologie im Kindes- und Jugendalter (5. Aufl.)
ISBN
978-3-662-62771-6

Kapitelübersicht

 

1. Kapitel: Die Entwicklung von Kindern: Eine Einführung

Warum untersucht man die Kindesentwicklung?

Es ist aus mehreren Gründen nützlich, etwas über die Kindesentwicklung zu erfahren: Es kann uns helfen, bessere Eltern zu werden, es formt unsere Meinung über soziale Fragen, die Kinder berühren, und es verbessert unser Verständnis von der Natur des Menschen.

Historische Wurzeln der Beschäftigung mit Kindesentwicklung

Große Denker wie Platon, Aristoteles, Locke und Rousseau formulierten grundlegende Fragen über die Kindesentwicklung und stellten dazu interessante Hypothesen auf. Ihnen standen jedoch noch nicht die modernen wissenschaftlichen Methoden zur Beantwortung dieser Fragen zur Verfügung.

Leitfragen der Kindesentwicklung

  • Das Gebiet der Kindesentwicklung stellt den Versuch dar, Antworten auf mehrere Grundfragen zu gewinnen: 1. Wie wirken sich Anlage und Umwelt gemeinsam auf die Entwicklung aus? 2. Wie formen Kinder ihre eigene Entwicklung? 3. In welcher Hinsicht verläuft Entwicklung kontinuierlich, in welcher diskontinuierlich? 4. Wie kommt es zu Veränderungen? 5. Wie wirkt sich der soziokulturelle Kontext auf die Entwicklung aus? 6. Warum werden Kinder so verschieden? 7. Wie kann Forschung das Kindeswohl fördern?
  • Jeder Entwicklungsaspekt, von der ganz speziellen Verhaltensweise bis zum allgemeinen Wesenszug, spiegelt sowohl die biologische Ausstattung (die Anlagen) als auch die bisherigen Erfahrungen (die Umwelteinflüsse) eines Menschen wider.
  • Selbst Säuglinge und Kleinkinder tragen aktiv zu ihrer eigenen Entwicklung bei: durch ihre Aufmerksamkeitsmuster, durch ihren Sprachgebrauch und durch die Wahl ihrer Aktivitäten.
  • Die meisten Entwicklungen können sowohl kontinuierlich als auch diskontinuierlich (in Stufen oder Schritten) erscheinen, je nachdem, wie oft und wie genau man hinsieht.
  • Die Mechanismen, die Veränderungen im Entwicklungsverlauf hervorbringen, umfassen ein komplexes Zusammenspiel von Genen, Gehirnstrukturen, Neurotransmittern und Erfahrungen.
  • Zu den Kontexten, die die Entwicklung formen, gehören diejenigen Menschen, mit denen Kinder direkt zu tun haben (z. B. Familie und Freunde), die Institutionen, die sie aufsuchen (z. B. Schule oder religiöse Einrichtungen), sowie gesellschaftliche Einstellungen (z. B. gegenüber ethnischen Gruppen und sozialen Schichten).
  • Interindividuelle Unterschiede, selbst jene zwischen Geschwistern, spiegeln die unterschiedliche genetische Ausstattung der Kinder, die Behandlung durch andere Menschen, die Interpretation eigener Erfahrungen sowie die eigene Auswahl von Kontexten wider.
  • Prinzipien, Befunde und Methoden aus der Entwicklungsforschung werden fortlaufend angewandt, um die Lebensqualität von Kindern zu erhöhen.

Methoden der Untersuchung kindlicher Entwicklung

  • Mit Einführung der wissenschaftlichen Methode wurden große Fortschritte beim Verstehen von Kindern möglich. Dabei wird eine Forschungsfrage ausgewählt, eine relevante Hypothese formuliert, eine Methode entwickelt, um die Hypothese zu prüfen, und anhand von Daten entschieden, ob die Hypothese zutrifft.
  • Damit Messwerte brauchbar sind, müssen sie für die Hypothese relevant, reliabel und valide sein. Reliabilität (Zuverlässigkeit) bedeutet, dass unabhängige Beobachtungen eines bestimmten Verhaltens übereinstimmen. Validität (Gültigkeit) bedeutet, dass ein Messwert das misst, was er messen soll.
  • Wichtige Methoden der Datenerhebung bei Kindern sind Interviews, Feldbeobachtungen und strukturierte Beobachtungen. Interviews lassen besonders gut das subjektive Erleben von Kindern erkennen. Die Feldbeobachtung ist besonders hilfreich, wenn das primäre Ziel darin besteht zu beschreiben, wie sich Kinder in ihrer alltäglichen Umgebung verhalten. Die strukturierte Beobachtung ist dann am nützlichsten, wenn hauptsächlich beschrieben werden soll, wie verschiedene Kinder auf dieselbe Situation reagieren.
  • Korrelation impliziert nicht Kausalität. Korrelationen geben lediglich das Ausmaß an, in dem zwei Variablen zusammenhängen, während ein kausaler Zusammenhang bedeutet, dass die Veränderung der Ausprägung der einen Variablen eine Änderung der Ausprägung der anderen Variablen nach sich zieht.
  • Korrelationsdesigns sind besonders nützlich, wenn es darum geht, die Beziehungen zwischen Variablen zu beschreiben, oder wenn man die interessierenden Variablen aus technischen oder praktischen Erwägungen nicht manipulieren kann.
  • Der besondere Wert experimenteller Designs liegt darin, die Ursachen für das Verhalten von Kindern aufzudecken.
  • Entwicklungsdaten erhält man durch Querschnittdesigns (die Untersuchung von Kindern verschiedenen Alters), Längsschnittdesigns (die Untersuchung derselben Kinder in verschiedenem Alter) oder mikrogenetische Designs (die Darbietung intensiver Erfahrungen in kurzem Zeitraum und die detaillierte Analyse des Veränderungsprozesses).
  • Es ist für Forschende unabdingbar, sich an hohen ethischen Standards zu orientieren. Zu den wichtigsten ethischen Standards gehört, dass man versucht sicherzustellen, dass das Forschungsvorhaben die Kinder weder physisch noch psychisch schädigt, dass man von den Eltern und nach Möglichkeit auch von den Kindern eine informierte Einwilligung erhält, dass man die Anonymität der Teilnehmer wahrt, dass man die Eltern über alles informiert, was für das Wohl des Kindes und dessen Aufrechterhaltung nötig ist, dass man jeglichen negativen Auswirkungen der Untersuchung entgegenwirkt und dass man jeden unzutreffenden Eindruck, den Kinder im Verlauf der Untersuchung erhalten, richtigstellt.

Zur Kapitelübersicht

 

2. Kapitel: Pränatale Entwicklung, Geburt und das Neugeborene

Pränatale Entwicklung

  • Anlage und Umwelt wirken bei der pränatalen Entwicklung zusammen. Ein großer Teil dieser Entwicklung wird vom Fötus selbst hervorgebracht; er ist ein aktiver Mitgestalter seines eigenen Entwicklungsfortschritts. Zwischen dem, was vor und was nach der Geburt vor sich geht, besteht eine große Kontinuität; die Kinder legen die Wirkungen dessen an den Tag, was ihnen im Mutterleib widerfahren ist.
  • Die pränatale Entwicklung beginnt auf der Ebene einzelner Zellen mit der Befruchtung, der Vereinigung einer mütterlichen Eizelle mit einem Spermium des Vaters, wodurch die Zygote entsteht. Die Zygote vervielfältigt und teilt sich auf ihrem Weg durch einen der Eileiter.
  • Die Zygote unterliegt den Prozessen der Zellteilung, der Zellmigration, der Differenzierung und des Absterbens von Zellen (der Apoptose). Diese Prozesse setzen sich während der gesamten pränatalen Entwicklung fort.
  • Wenn sich die Zygote in der Gebärmutterwand einnistet, wird sie zum Embryo. Von diesem Moment an ist der Embryo von der Mutter abhängig – er erhält Nährstoffe sowie Sauerstoff und entsorgt Abfallstoffe über die Plazenta.
  • Das Verhalten des Fötus beginnt fünf oder sechs Wochen nach der Befruchtung, noch unbemerkt von der Mutter, mit einfachen Bewegungen; diese werden zunehmend komplexer und strukturieren sich zu Bewegungsmustern. Später übt der Fötus Verhaltensweisen, die für ein unabhängiges Leben unerlässlich sind, darunter das Schlucken und eine Art intrauterines „Atmen“.
  • Der Fötus erlebt im Mutterleib sowohl aus dem Körper der Mutter als auch aus der äußeren Umgebung eine Fülle von Stimulationen. Aus dieser Erfahrung lernt der Fötus. Das zeigen Untersuchungen, in denen der Nachweis erbracht wurde, dass sowohl die Föten als auch die Neugeborenen zwischen bekannten und neuartigen Geräuschen –insbesondere sprachlichen Lauten – unterscheiden können und im Mutterleib nachhaltige Geschmackspräferenzen entwickeln.

Risiken der pränatalen Entwicklung

  • Für die pränatale Entwicklung bestehen viele Risiken. Das häufigste Schicksal eines befruchteten Eies ist der spontane Abort (eine Fehlgeburt).
  • Eine ganze Palette von Umweltfaktoren kann die pränatale Entwicklung gefährden. Dazu gehören fruchtschädigende Einflüsse – sogenannte „Teratogene“ – aus der äußeren Umwelt und bestimmte mütterliche Merkmale und Gewohnheiten, z. B. das Alter der Mutter, ihr Ernährungszustand, ihre körperliche Gesundheit, ihre Verhaltensweisen (insbesondere der Konsum legaler und illegaler Drogen) und ihre emotionale Verfassung.

Die Geburtserfahrung

  • Etwa 40 Wochen nach der Befruchtung ist das Baby so weit, dass es geboren werden kann. Normalerweise trägt das Verhalten des Fötus zu diesem Zeitpunkt dazu bei, den Geburtsvorgang einzuleiten.
  • Der Prozess, in dem der Fötus durch den Geburtskanal gepresst wird, hat auf das Neugeborene mehrere positive Auswirkungen, beispielsweise bereitet er das Kind auf seinen ersten Atemzug vor.
  • Die Geburtspraktiken variieren sehr stark zwischen verschiedenen Kulturen. Zum Teil hängen sie davon ab, welche Ziele und Werte von einer Kultur besonders betont werden.

Das Neugeborene

  • Neugeborene zeigen sechs verschiedene Aktivierungszustände, vom tiefen Schlafen bis zum aktiven Schreien.
  • Wie viel Zeit Säuglinge in den einzelnen Zuständen verbringen, kann sich stark unterscheiden, sowohl zwischen Individuen als auch zwischen Kulturen.
  • Der REM-Schlaf scheint den Mangel an visueller Stimulation auszugleichen, der daraus resultiert, dass im Mutterleib Dunkelheit herrscht und das Neugeborene viele Stunden am Tag schläft, also mit geschlossenen Augen verbringt.
  • Das Schreien eines Babys kann für andere äußerst unangenehm sein, und Eltern setzen viele Strategien ein, um verzweifelt schreiende Babys zu beruhigen.
  • Die Säuglingssterblichkeit ist in Deutschland vergleichsweise gering. Die Babys von Eltern mit niedrigem sozioökonomischem Status sterben allerdings wesentlich häufiger als die Kinder gut situierter Eltern.
  • Kinder mit einem Geburtsgewicht unter 2500 g gelten als untergewichtig. Für diese Kinder besteht das Risiko vielfältiger Entwicklungsprobleme, und je geringer das Geburtsgewicht ist, desto höher ist das Risiko bleibender Schwierigkeiten.
  • Es gibt eine Vielzahl von Interventionsprogrammen, um den Entwicklungsverlauf bei untergewichtigen Babys zu verbessern, die sowohl die Zeit im Krankenhaus als auch die Zeit nach der Rückkehr des Säuglings nach Hause umfassen. Das Modell der multiplen Risiken verweist auf den Umstand, dass Kinder mit mehreren Risikofaktoren wahrscheinlicher bleibende Entwicklungsstörungen aufweisen. Armut ist ein besonders tückisches Entwicklungsrisiko, unter anderem weil sie untrennbar mit zahlreichen anderen negativen Einflussfaktoren zusammenhängt.
  • Manche Kinder erweisen sich selbst angesichts beträchtlicher Risikofaktoren als widerstandsfähig oder resilient. Resilienz scheint auf bestimmten persönlichen Eigenschaften sowie auf der Aufmerksamkeit und der emotionalen Unterstützung durch andere Menschen zu beruhen.

Zur Kapitelübersicht

 

3. Kapitel: Biologie und Verhalten

Anlage und Umwelt

  • Ausgangspunkt jeder menschlichen Entwicklung ist der Genotyp eines Individuums – darunter versteht man alle Gene, die man bei der Befruchtung von seinen Eltern erbt. Nur einige dieser Gene kommen im Phänotyp, den beobachtbaren Eigenschaften eines Menschen, zur Ausprägung. Ob Gene exprimiert werden oder nicht, ist abhängig von Dominanzmustern. Die meisten Merkmale, für die sich Entwicklungswissenschaftler interessieren, werden von mehr als einem Gen beeinflusst.
  • Die endgültige Ausprägung eines bestimmten Genotyps hängt immer von der Umwelt ab, in der er sich entwickelt. Die Eltern und ihr Verhalten nehmen besonderen Einfluss auf die Umwelt eines Kindes. Der Genotyp der Eltern beeinflusst dabei ihr Verhalten gegenüber dem eigenen Nachwuchs.
  • Die Entwicklung eines Kindes wird aber auch durch diejenigen Umweltaspekte beeinflusst, die sich das Kind selbst aussucht, sowie durch die unterschiedlichen Reaktionen anderer Menschen, die die Eigenschaften und Verhaltensweisen des Kindes bei diesen hervorrufen.
  • Epigenetische Effekte liegen vielen Aspekten der Entwicklung und individuellen Unterschieden zugrunde. Dieser Prozess wird biochemisch über die Methylierung beeinflusst.

Verhaltensgenetik

  • Die Verhaltensgenetik befasst sich mit dem gemeinsamen Einfluss genetischer und umweltbedingter Faktoren auf das Verhalten. Quantitative Verhaltensgenetiker verwenden eine Vielzahl familienbezogener Untersuchungsdesigns, um Heritabilitätsschätzungen zu erstellen, wobei sie die relativen Beiträge von Genen und Umwelt auf die Ausprägung individueller Unterschiede in Bezug auf verschiedene Merkmale und Verhaltensweisen für bestimmte Populationen untersuchen.
  • Ansätze der molekularen Verhaltensgenetik erlauben es, über die Familiendesigns hinauszugehen und genetische Muster in großen Gruppen von Menschen zu untersuchen.

Die Entwicklung des Gehirns

  • Neuronen sind die Basiseinheiten des Informationssystems Gehirn. Diese Zellen übermitteln Informationen durch elektrische Signale. Impulse von einem Neuron werden an Synapsen übertragen.
  • Der Kortex des Gehirns besteht aus mehreren großen Bereichen oder Gehirnlappen, die auf verschiedene Funktionen spezialisiert sind.
  • Die Gehirnentwicklung umfasst mehrere Prozesse: Sie beginnt mit der Neurogenese und der Differenzierung von Nervenzellen. Bei der Synaptogenese, die pränatal beginnt und die ersten Jahre nach der Geburt andauert, wird eine enorme Fülle an Verbindungen zwischen Neuronen gebildet. Durch die Zurückbildung von Synapsen werden überzählige Verbindungen zwischen Neuronen eliminiert. Die Myelinisierung, ein weiterer wichtiger Prozess für die neurale Verarbeitung, beginnt vor der Geburt und setzt sich bis ins Erwachsenenalter fort.
  • Erfahrung spielt eine entscheidende Rolle bei der Bildung und Eliminierung von Synapsen und beeinflusst somit maßgeblich die Verschaltung des Gehirns. An der Feinabstimmung innerhalb des Gehirns sind zum einen erfahrungserwartende Prozesse beteiligt, bei denen existierende Synapsen im Zusammenhang mit derjenigen Stimulation, die praktisch jeder Mensch erfährt, erhalten bleiben, zum anderen erfahrungsabhängige Prozesse, bei denen Verbindungen im Zusammenhang mit Lernprozessen neu gebildet werden.
  • Plastizität ermöglicht unter bestimmten Umständen eine Reparatur möglicherweise entstandener Schäden. Allerdings wird das sich entwickelnde Gehirn durch Plastizität auch anfällig für eine fehlende Stimulation während sensibler Phasen der Entwicklung. Die Fähigkeit des Gehirns, sich von einer Verletzung zu erholen, hängt vom Alter des Kindes ab.

Wachstum und Entwicklung des Körpers

  • Menschen durchlaufen eine besonders lang andauernde Phase des Körperwachstums, die nicht gleichförmig verläuft, sondern durch besonders starkes Wachstum im frühen Leben und im Jugendalter gekennzeichnet ist. Jahrhunderttrends wurden durch einen Anstieg des durchschnittlichen Körpergewichts und der Körpergröße beobachtet.
  • Nahrungspräferenzen beginnen mit den angeborenen Reaktionen von Neugeborenen auf geschmackliche Grundqualitäten, aber weitere Vorlieben entwickeln sich als Resultat der Erfahrung. Probleme mit der Regulation des Essens sind in den USA und anderen westlichen Ländern offenkundig; die dort vorherrschende Übergewichtsepidemie lässt sich sowohl mit Umwelt- als auch mit genetischen Faktoren zurückführen.
  • Unzureichende Ernährung hängt eng mit Armut zusammen und führt zu einer Vielzahl von körperlichen und verhaltensbezogenen Problemen, die sich auf praktisch jeden Aspekt des Lebens eines betroffenen Kindes auswirken. Damit Millionen von Kindern normale Gehirne und Körper entwickeln können, bedarf es Präventionsmaßnahmen gegen Unterernährung.
  • Impfungen tragen dazu bei, Säuglinge und Kinder vor einer Reihe von Krankheiten zu schützen. Die weitverbreitete Behauptung über eine Verbindung zwischen Autismus und Impfstoffen basiert auf gefälschten Daten. Impfstoffe verursachen keinen Autismus.

Zur Kapitelübersicht

 

4. Kapitel: Theorien der kognitiven Entwicklung

Entwicklungstheorien sind wichtig, weil sie einen Rahmen für das Verständnis wichtiger Phänomene bieten, relevante Fragen über das Wesen des Menschen aufwerfen und neue Forschungen anregen. Fünf wichtige Theorien der kognitiven Entwicklung sind die Theorie von Piaget, der Informationsverarbeitungsansatz, die domänenspezifischen Ansätze und Kernwissenstheorie, die soziokulturellen Theorien sowie der dynamische Systemansatz.

Die Theorie von Piaget

  • Piagets Theorie hat unter anderem deshalb so lange Bestand, weil sie einen lebendigen Eindruck vom kindlichen Denken in verschiedenen Altersstufen vermittelt, eine breite Alters- und Inhaltsspanne umfasst und viele faszinierende und überraschende Beobachtungen kindlicher Denkleistungen bietet.
  • Sie wird oft als „konstruktivistisch“ bezeichnet, weil Kinder – als Reaktion auf ihre Erfahrungen und Erlebnisse – aktiv Wissen für sich selbst konstruieren. Piagets Theorie postuliert, dass Kinder mithilfe zweier von Geburt an vorhandener Prozesse lernen: Assimilation und Akkommodation. Weiterhin wird angenommen, dass sie die Beiträge dieser beiden Teilprozesse durch den dritten Prozess, die Äquilibration, in Balance bringen. Diese Prozesse bewirken Kontinuität im Entwicklungsverlauf.
  • Piagets Theorie unterteilt die kognitive Entwicklung in vier ausgedehnte Stadien: das sensomotorische Stadium (Geburt bis zwei Jahre), das präoperationale Stadium (zwei bis sieben Jahre), das konkret-operationale Stadium (sieben bis zwölf Jahre) und das formal-operationale Stadium (zwölf Jahre und älter). Diese Stadien spiegeln einen diskontinuierlichen Entwicklungsverlauf wider.
  • Im sensomotorischen Stadium kommt die Intelligenz der Kinder vorwiegend durch motorische Interaktionen mit der Umwelt zum Ausdruck. Die Säuglinge erwerben Konzepte wie die Objektpermanenz und können das Verhalten anderer zeitlich verzögert nachahmen.
  • Im präoperationalen Stadium erwerben Kinder die Fähigkeit, ihre Erfahrungen in Form von Sprache, mentalen Vorstellungsbildern und Gedanken zu repräsentieren; wegen kognitiver Beschränkungen wie Egozentrismus und Zentrierung haben sie jedoch bei vielen Aufgaben Lösungsschwierigkeiten, beispielsweise bei diversen Aufgaben zur Invarianz und bei Aufgaben, die mit dem Übernehmen der Perspektive anderer zusammenhängen.
  • Im konkret-operationalen Stadium erlangen Kinder die Fähigkeit, angesichts konkreter Gegenstände und Ereignisse logisch zu schlussfolgern; es bestehen aber noch Schwierigkeiten im logischen Umgang mit rein abstrakten Begriffen und mit Aufgaben, die hypothetisches Denken erfordern, beispielsweise mit dem Pendelproblem.
  • Im formal-operationalen Stadium erwerben Kinder die kognitiven Fähigkeiten zum hypothetischen Denken.
  • Vier Schwächen der Theorie Piagets bestehen darin, dass sie (1) die Mechanismen, die das Denken und das kognitive Wachstum ermöglichen, nur andeutungsweise beschreibt, dass sie (2) die kognitive Kompetenz von Säuglingen und Kleinkindern ebenso unterschätzt wie (3) den Beitrag der sozialen Welt zur kognitiven Entwicklung und dass sie (4) das Denken des Kindes bereichsübergreifender darstellt, als es ist. Jede Schwachstelle hat Forscher motiviert, Theorien zu entwickeln, die diesen Fragen besser gerecht werden.

Theorien der Informationsverarbeitung

  • Informationsverarbeitungstheorien konzentrieren sich auf die speziellen geistigen Prozesse, die dem Denken von Kindern zugrunde liegen. Schon im Säuglingsalter wird Kindern zugeschrieben, dass sie Ziele aktiv verfolgen, an körperliche und soziale sowie an Verarbeitungsgrenzen stoßen und Strategien ausbilden, mit deren Hilfe sie die Verarbeitungsgrenzen überwinden und ihre Ziele erreichen können.
  • Das Gedächtnissystem besteht aus dem Arbeits- und dem Langzeitgedächtnis sowie Aspekten der exekutiven Funktionen.
  • Das Arbeitsgedächtnis (oft auch als Kurzzeitgedächtnis bezeichnet) ist ein System zur Steuerung der aktiven Aufmerksamkeit, zum Aufnehmen, kurzfristigen Behalten, Speichern und Verarbeiten von Informationen.
  • Das Langzeitgedächtnis enthält das gespeicherte Wissen, das sich im Laufe des Lebens ansammelt.
  • Die exekutiven Funktionen sind unter anderem wichtig für die Unterdrückung nicht wünschenswerter Handlungen und Impulse, die Verbesserung des Arbeitsgedächtnisses und die flexible Anpassung an sich verändernde Situationen; sie entwickeln sich größtenteils im Kindergartenalter und in den ersten Jahren der Grundschulzeit und korrelieren mit schulischem und beruflichem Erfolg.
  • Die Entwicklung von Lern- und Gedächtnisleistungen und der Fähigkeit zum Problemlösen reflektiert Verbesserungen der Basisprozesse, der Strategien und des Inhaltswissens.
  • Mithilfe von kognitiven Basisprozessen können Säuglinge von Geburt an lernen und sich erinnern. Zu den wichtigsten Basisprozessen gehören Assoziation, Wiedererkennen, Generalisierung und Enkodierung.
  • Der Einsatz von Strategien erhöht die Lern- und Gedächtnisleistungen über das Niveau hinaus, das allein durch die Basisprozesse erreicht werden kann.
  • Zur Entfaltung des Problemlösens trägt vorrangig die Entwicklung des Planens und der Enkodierung bei.
  • Die Theorie der überlappenden Wellen charakterisiert die Entwicklung des Problemlösens als Aneignung neuer Strategien, die eine immer effizientere Anwendung bestehender Strategien ermöglichen, und die immer häufigere Wahl von Strategien, die zu bestimmten Situationen passen.

Domänenspezifische Ansätze und Kernwissenstheorien

  • Domänenspezifische Ansätze der Wissenentwicklung besagen, dass sich das Denken von Kindern bereichsspezifisch entwickelt und zunächst in Form von naiven Theorien organisiert ist, die später immer weiter ausdifferenziert werden.
  • Die Kernwissenstheorien gehen davon aus, dass Kinder mit einer breiten Palette bereichsspezifischer kognitiver Kompetenzen und mit angeborenem Wissen ins Leben starten.
  • Evolutionär besonders wichtige Aspekte wie Sprache, räumliche und zahlenbezogene Informationen, ein Verständnis für das Denken anderer Menschen und Gesichtserkennung sind früh vorhanden und werden rasch ausdifferenziert.
  • Der Kernwissensansatz ist nativistisch ausgerichtet, weil er davon ausgeht, dass Kinder mit substanziellem Wissen über evolutionär wichtige Bereiche geboren werden.
  • Andere domänenspezifische Ansätze sind konstruktivistisch ausgerichtet, weil Kinder rudimentäre Theorien in Bereichen wie Physik, Psychologie und Biologie fortwährend weiterentwickeln, indem sie grundlegendes angeborenes Wissen mit neu gelerntem kombinieren und das Lernen sowohl durch bereichsübergreifende als auch bereichsspezifische Mechanismen erzeugt wird.

Soziokulturelle Theorien

  • Ausgehend von der Theorie Wygotskis haben sich soziokulturelle Theorien darauf konzentriert zu klären, wie die soziale Welt die Entwicklung formt. Nach diesem Ansatz gestaltet sich die Entwicklung nicht nur durch Interaktionen mit anderen Menschen und den daraus erlernten Fertigkeiten, sondern auch durch die Gebrauchsgegenstände, mit denen Kinder umgehen, und durch die kulturellen Werte und Traditionen der Gesellschaft als solcher.
  • Aus der Sicht soziokultureller Theorien unterscheiden sich Menschen von anderen Lebewesen durch ihre Neigung, anderen etwas zu zeigen und beizubringen (zu lehren), und ihre Fähigkeit, aus den Instruktionen anderer zu lernen.
  • Soziokulturellen Theorien zufolge lernen Menschen durch gelenkte Partizipation und durch soziale Unterstützung, wobei die besser informierten Experten die Lernenden in ihren Bemühungen unterstützen.
  • Die Herstellung von Intersubjektivität zwischen Menschen durch geteilte Aufmerksamkeit ist wesentlich für das Lernen.

Theorien dynamischer Systeme

  • Laut den Theorien dynamischer Systeme ist der Wandel die entscheidende Konstante in der Entwicklung. Statt Entwicklung als eine Folge von Sprüngen zwischen langen Phasen der Stabilität und kurzen Phasen dramatischer Veränderung zu beschreiben, geht man dieser Theorien zufolge von einem ständigen Wandel in allen Phasen aus.
  • Jeder Mensch wird als ein einheitliches System aufgefasst, das Ziele erreicht, indem es Wahrnehmung, Handeln, Kategorienbildung, Motivation, Gedächtnis, Sprache und das Wissen über die materielle und soziale Welt integriert.
  • Theoretiker dynamischer Systeme sehen Entwicklung als einen sich selbst organisierenden Prozess an, der je nach Bedarf die nötigen Komponenten verbindet, um sich an die sich kontinuierlich wandelnde Umwelt anzupassen. Dieser Prozess wird auch als „weiche Funktionsgruppe“ (soft assembly) bezeichnet.
  • Zum Erreichen von Zielen ist beides erforderlich, Denken und Handeln. Das Denken formt das Handeln, wird seinerseits aber auch vom Handeln geformt.
  • Variation und Selektion führen – ähnlich wie bei der biologischen Evolution – zur kognitiven Entwicklung.

Zur Kapitelübersicht

 

5. Kapitel: Die frühe Kindheit – Sehen, Denken und Tun

Wahrnehmung

  • Das visuelle System von Neugeborenen ist relativ unreif: Sie haben eine geringe Sehschärfe, eine geringe Kontrastempfindlichkeit und ein minimales Farbensehen. Schon Minuten nach der Geburt beginnen Neugeborene, die Welt visuell abzutasten, und bevorzugen kontrastreiche Muster, insbesondere menschliche Gesichter
  • Einige Sehfähigkeiten, einschließlich der Wahrnehmung der Größen- und der Formkonstanz, liegen bereits bei der Geburt vor; andere entwickeln sich schnell im Verlauf des ersten Lebensjahres. Das beidäugige Sehen (Stereopsis) entwickelt sich mit etwa vier Monaten; in diesem Alter ist auch die Fähigkeit zur Identifikation von Objektgrenzen – die Objekttrennung – vorhanden. Mit sieben Monaten sind Kinder für eine Vielzahl von Tiefenhinweisen in Bildern oder beim monokularen Sehen sensitiv.
  • Im Gegensatz zu Piagets Überzeugungen über Objektpermanenz legen Experimente nahe, dass sich schon junge Säuglinge an Gegenstände erinnern können, die nicht mehr zu sehen sind.
  • Das auditive System ist bei der Geburt vergleichsweise gut entwickelt, sodass Neugeborene schon ihren Kopf drehen, um ein Geräusch zu lokalisieren. Der bemerkenswerten Fähigkeit von Kleinkindern, in akustischen Reizen Muster zu erkennen, liegt ihre Empfindlichkeit für musikalische Strukturen zugrunde.
  • Durch aktives Berühren mithilfe von Mund und Hand erkunden und erfahren Kinder sich selbst und ihre Umwelt.
  • Forschungen zur intermodalen Wahrnehmung ließen erkennen, dass Kinder vom frühesten Alter an Informationen der verschiedenen Sinnesmodalitäten integrieren.

Motorische Entwicklung

  • Die motorische Entwicklung erreicht in der frühen Kindheit eine Reihe von „motorischen Meilensteinen“ und schreitet rasch voran, angefangen mit den starken Reflexen neugeborener Babys. Einige Aspekte der motorischen Entwicklung variieren jedoch zwischen den verschiedenen Kulturen.
  • Jede neue motorische Errungenschaft, vom Greifen bis zur Fortbewegung aus eigener Kraft, erweitert die Erfahrung des Kindes und bietet gleichzeitig neue Herausforderungen. Kleinkinder verwenden eine Vielzahl von Strategien, um sich erfolgreich und sicher in der Welt zu bewegen. Bei diesem Prozess machen sie eine ganze Reihe überraschender Fehler.

Lernen und Gedächtnis

  • In der frühen Kindheit liegen verschiedene Arten des Lernens vor. Kinder habituieren auf Reize, die sich wiederholen, und bevorzugen dann neue Reize. Wahrnehmungslernen kommt durch aktive Exploration zustande. Kinder lernen auch durch klassische Konditionierung, was die Bildung von Assoziationen zwischen natürlichen und neutralen Reizen einschließt, und durch operante Konditionierung, bei der das Lernen der Kontingenzen zwischen dem eigenen Verhalten und dessen Konsequenzen eine Rolle spielt. Sie können auch Wahrscheinlichkeiten in ihrer Umwelt abschätzen und Erfahrungen nutzen, um Erwartungen für die Zukunft zu entwickeln.
  • Beobachtungslernen – das Betrachten und Nachmachen der Verhaltensweisen anderer Menschen – wird zu einer zunehmend bedeutsamen Informationsquelle. Indem sie auf die Welt einwirken, haben Kleinkinder die Möglichkeit, selbst zu entscheiden, was sie lernen wollen.
  • Die Gedächtnisleistungen von Säuglingen unterstützen das Lernen bereits vor der Geburt und entwickeln sich im Laufe des ersten Lebensjahres rasant.

Zur Kapitelübersicht

 

6. Kapitel: Die Entwicklung des Sprach- und Symbolgebrauchs

Ein entscheidendes Merkmal des Menschseins ist der kreative und flexible Gebrauch einer Vielzahl sprachlicher und anderer Symbole. Die enorme Kraft der Sprache rührt von ihrer Generativität her – der Tatsache, dass sich aus einer endlichen Menge von Wörtern eine schier unendliche Anzahl von Sätzen erzeugen lässt.

Sprachentwicklung

  • Eine Sprache zu erwerben, bedeutet, ein komplexes System aus phonologischen, semantischen, syntaktischen und pragmatischen Regeln zu lernen, die die Laute, Bedeutungen, grammatischen Strukturen und Verwendungsmöglichkeiten der Sprache leiten.
  • Die Sprachfähigkeit ist artspezifisch. Die erste Voraussetzung für ihre voll ausgeprägte Entwicklung ist ein menschliches Gehirn. Nichtmenschliche Tiere können keine voll ausgebildete Sprache lernen.
  • Die ersten Jahre des menschlichen Lebens bilden eine kritische Phase für den Spracherwerb; viele Aspekte der Sprache lassen sich danach schwerer erlernen.
  • Eine zweite Voraussetzung für die Sprachentwicklung ist der Kontakt mit Sprache. Zu einem großen Teil werden Babys mit kindzentrierter Sprache angesprochen.

Der Prozess des Spracherwerbs

  • Säuglinge haben bemerkenswerte Sprachverstehensfähigkeiten. Sie legen wie Erwachsene eine kategoriale Wahrnehmung von Sprachlauten an den Tag und ordnen Laute diskreten Kategorien zu, auch wenn diese Laute physikalisch ähnlich sind. Wenn sie die Laute, die in ihrer Sprache wichtig sind, lernen, verringert sich ihre Fähigkeit, Laute in anderen Sprachen zu unterscheiden.
  • Säuglinge sind für die Verteilungscharakteristika der Sprache höchst sensibel und nutzen sie, um Wörter aus dem vorbeirauschenden Sprachstrom herauszugreifen.
  • Mit etwa sieben Monaten beginnen Kinder zu plappern. Kinder produzieren repetitive Lautfolgen wie „bababa“ oder repetitive Handbewegungen, wenn sie mit einer Gebärdensprache in Kontakt stehen.
  • Die zweite Hälfte des ersten Lebensjahres ist auch dadurch gekennzeichnet, dass das Kind lernt, wie es mit anderen Menschen kommunizieren kann. Dazu gehört die Fähigkeit zur geteilten Aufmerksamkeit.
  • Das Erkennen von Wortbedeutungen (die Assoziation vertrauter Wörter mit ihren Referenten) beginnt mit etwa sechs Monaten. Die Produktion erkennbarer Wörter beginnt mit etwa einem Jahr. Die Kinder nutzen darüber hinaus nun eine Fülle von Strategien, um die Bedeutungen neuer Wörter herauszufinden.
  • Gegen Ende des zweiten Lebensjahres produzieren Kinder kurze Sätze. Die Länge und Komplexität ihrer Äußerungen nimmt nach und nach zu.
  • Im Kindergartenalter unterlaufen Kindern im Englischen wie im Deutschen Übergeneralisierungen, bei denen unregelmäßige Formen so behandelt werden, als ob sie regelmäßig gebildet würden.
  • Kinder entwickeln ihre aufkeimenden sprachlichen Fähigkeiten, indem sie von kollektiven Monologen zu längeren Gesprächen übergehen – sie erlangen die Fähigkeit, zusammenhängend von ihren Erlebnissen zu erzählen.

Theoriefragen der Sprachentwicklung

  • Praktisch alle aktuellen Theorien der Sprachentwicklung erkennen an, dass dabei angeborene (interne) Faktoren und Erfahrung (extern) zusammenwirken.
  • Nativisten, beispielsweise der einflussreiche Linguist Noam Chomsky, postulieren angeborenes Wissen in Form einer Universalgrammatik, einem Satz hoch abstrakter Regeln, die allen Sprachen gemein ist.
  • Interaktionistische Theoretiker betonen den kommunikativen Kontext der Sprachentwicklung und des Sprachgebrauchs.
  • Andere theoretische Ansätze argumentieren, dass Spracherwerb leistungsfähige kognitive Allzweckmechanismen erfordert.

Nichtsprachliche Symbole und Entwicklung

  • Symbolische Artefakte wie Karten oder Modelle erfordern eine duale Repräsentation. Um sie zu verwenden, müssen Kinder im Geiste sowohl das Symbolobjekt selbst als auch seine symbolische Beziehung zum Referenten repräsentieren.
  • Zeichnen und Schreiben sind verbreitete symbolische Tätigkeiten. Die frühen Kritzeleien der kleinen Kinder weichen bald der Absicht, Bilder von etwas zu zeichnen. Frühe Schreibversuche sind zwar unleserlich, enthalten aber einige Merkmale ausgereifter Schreibsysteme.

Zur Kapitelübersicht

 

7. Kapitel: Die Entwicklung von Konzepten

Um zu verstehen, was sie erleben, müssen Kinder lernen, dass die Welt verschiedenartige Typen von Objekten enthält: Menschen, andere Lebewesen und unbelebte Gegenstände. Auch benötigen Kinder ein Grundverständnis von Kausalität, Raum, Zeit und Zahl, sodass sie in der Lage sind, ihre Erfahrungen danach zu kodieren, warum, wo, wann und wie oft Ereignisse auftreten.

Die Dinge verstehen: Wer oder was

  • Die ersten Objektkategorien von Kindern beruhen größtenteils auf perzeptueller Ähnlichkeit, insbesondere auf Formähnlichkeit. Zum Ende des ersten Lebensjahres bilden sie auch Klassen von Objekten mit gleicher Funktion.
  • Im Alter von zwei oder drei Jahren bilden Kinder Klassenhierarchien vom Typ Tier – Hund – Pudel oder Möbel – Stuhl – Barhocker.
  • Ab der frühen Kindheit verhalten sich Kinder gegenüber Menschen anders als gegenüber Tieren oder unbelebten Objekten. Zum Beispiel lächeln sie Menschen mehr an als Kaninchen oder Roboter.
  • Mit vier oder fünf Jahren entwickeln Vorschulkinder eine elementare, aber wohlorganisierte alltagspsychologische Theory of Mind, in der sie ihr Verständnis von menschlichem Verhalten strukturieren. Eine wichtige Prämisse besteht darin, dass Wünsche und Überzeugungen Motivation für bestimmte Handlungsweisen sind.
  • Dreijährigen fällt es sehr schwer zu begreifen, dass andere Menschen aufgrund ihrer Überzeugungen handeln, insbesondere dann, wenn diese Überzeugungen falsch sind; viele Kinder verstehen das vor dem fünften Lebensjahr noch nicht.
  • Tiere und Pflanzen, besonders aber Tiere, sind für kleine Kinder von größtem Interesse. Wenn Tiere anwesend sind, werden sie mit großer Aufmerksamkeit betrachtet.
  • Mit vier Jahren haben Kinder ein recht differenziertes Verständnis von Lebewesen entwickelt, das kohärente Vorstellungen über unsichtbare Prozesse wie Wachstum, Vererbung, Krankheit und Genesung einschließt. Sowohl ihre natürliche Begeisterung für Lebewesen als auch die Informationen, die sie aus der Umwelt erhalten, tragen zur Erweiterung ihres Wissens über Pflanzen und Tiere bei.

Die Umstände verstehen: Wo, wann, warum und wie viel

  • Die Debatten zwischen Nativisten und Empiristen haben unser Wissen über das beeindruckende Verständnis der grundlegenden Konzepte von Kindern in Bezug auf Ursache-Wirkungs-Beziehungen, den menschlichen Geist, Raum, Zeit und Zahl sowie die Erfahrungen und Lernmechanismen, die zur späteren Entwicklung dieser Konzepte beitragen, erweitert.
  • Die Entwicklung des kausalen Denkens beginnt bei physikalischen Ereignissen ebenfalls in der frühen Kindheit. Zwischen sechs und zwölf Monaten verstehen Kinder, was vermutlich passieren wird, wenn zwei Objekte kollidieren. Das Verständnis der kausalen Beziehungen zwischen Handlungen hilft einjährigen Kindern, diese Handlungen im Gedächtnis zu behalten.
  • Mit vier oder fünf Jahren scheinen Kinder zu erkennen, dass Ursachen notwendig sind, damit Ereignisse eintreten. Wenn keine Ursache offensichtlich ist, suchen sie nach einer. Im Vorschulalter glauben Kinder jedoch sowohl an Magie und Zauberei als auch an Ursache-Wirkungs-Beziehungen.
  • Menschen sind, wie andere Tiere auch, biologisch darauf vorbereitet, räumliche Sachverhalte zu kodieren. In frühester Kindheit kodieren sie die Orte anderer Objekte hauptsächlich relativ zu ihrer eigenen Position und zu externen Orientierungspunkten. Mit dem Erwerb der Fähigkeit, sich aus eigener Kraft fortzubewegen, bekommen sie ein Gefühl für Raumpositionen relativ zur allgemeinen Umgebung sowie relativ zu ihrer aktuellen Position.
  • Blind geborene Kinder haben überraschend gute räumliche Repräsentationen; einige Aspekte ihrer Verarbeitung von räumlichen Informationen, insbesondere der Verarbeitung von Gesichtern, erreichen jedoch nicht das normale Maß, selbst wenn ihre Sehbehinderung bereits in früher Kindheit operativ korrigiert oder behoben wurde.
  • So wie Kinder mit der Fähigkeit auf die Welt kommen, bestimmte Aspekte des Raumes zu kodieren, so sind sie auch mit der Fähigkeit geboren, bestimmte Aspekte der Zeit zu kodieren. Schon mit drei Monaten kodieren sie die Reihenfolge, in der Ereignisse auftreten. Säuglinge dieses Alters können auch anhand von regelmäßigen Abfolgen vergangener Ereignisse zukünftige Ereignisse antizipieren.
  • Mit fünf Jahren können Kinder in gewissem Sinn logisch über Zeit nachdenken; wenn zwei Ereignisse gleichzeitig begannen und eines später endete als das andere, können sie erschließen, dass das später endende länger gedauert haben muss. Kinder sind zu solchen Schlüssen aber nur in der Lage, wenn sie in ihrer Wahrnehmung nicht durch störende Reize abgelenkt werden.
  • Kleinkinder differenzieren zwischen der Anzahl von Objekten, Geräuschen oder Ereignissen, wenn der Unterschied (das Zahlenverhältnis) groß ist. Ein elementares Verständnis von sehr kleinen Zahlen existiert schon in frühester Kindheit. Säuglinge bemerken Unterschiede sehr kleiner Mengen von Objekten und zwischen Ereignissen, die unterschiedlich oft wiederholt werden. Sie erkennen auch bereits Unterschiede zwischen Mengen von Objekten oder Ereignissen, wenn die Anzahl der Mengenelemente relativ zueinander stark abweicht, also in einem großen Verhältnis zueinander steht.
  • Im Alter von drei Jahren lernen die meisten Kinder, bis zu zehn Objekte abzuzählen. Ihr Zählen scheint ein Verständnis der Prinzipien widerzuspiegeln, die dem Zählen zugrunde liegen, beispielsweise dass jedes gezählte Objekt nur mit einem einzigen Zahlwort bezeichnet werden darf. Wie schnell Dreijährige dann über zehn hinaus zählen lernen, ist auch ein Spiegel kultureller Einflüsse durch die sprachliche Struktur von Zahlwörtern und die Wertschätzung mathematischen Wissens.
  • Kinder verfügen in einem Alter von neun Monaten über eine allgemeine Repräsentation von Größe in Bezug auf die Dimensionen Raum, Zeit und Zahl.

Zur Kapitelübersicht

 

8. Kapitel: Intelligenz und schulische Leistungen

  • Alfred Binet und sein Mitarbeiter Théophile Simon entwickelten den ersten weitverbreiteten Intelligenztest. Sie wollten damit Kinder identifizieren, die vom normalen Unterricht in der Klasse wahrscheinlich nicht profitieren würden. Moderne Intelligenztests sind Nachfolger des Binet-Simon-Tests.
  • Eine zentrale Erkenntnis Binets war, dass Intelligenz verschiedene Teilfähigkeiten umfasst, die man beurteilen muss, um Intelligenz genau messen zu können.

Was ist Intelligenz?

  • Man kann Intelligenz als eine einzelne Persönlichkeitseigenschaft betrachten, wie die allgemeine Intelligenz g, als Kombination aus wenigen verschiedenen Fähigkeiten,
    wie Thurstones Primärfaktoren, oder als große Anzahl spezifischer Prozesse, wie sie in Analysen der Informationsverarbeitung beschrieben werden.
  • Intelligenz wird oft mit IQ-Tests wie dem Stanford-Binet-Test oder dem WISC gemessen. Diese Tests untersuchen Allgemeinwissen, Wortschatz, Rechnen, Sprachverstehen, räumliches Denken und eine Vielzahl anderer intellektueller Fähigkeiten.

Intelligenzmessung

  • Der Gesamtwert einer Person in einem Intelligenztest, der IQ, ist ein Maß der allgemeinen Intelligenz. Der IQ spiegelt die geistigen Fähigkeiten der Person in Bezug zu Gleichaltrigen wider.
  • Die IQ-Werte der meisten Kinder sind über Jahre hinweg recht stabil, können im Zeitverlauf aber etwas schwanken.

IQ-Werte als Prädiktoren von Lebenserfolg

  • IQ-Werte korrelieren positiv mit langfristigem Bildungs- und Berufserfolg.
  • Andere Faktoren wie soziales Verständnis, Kreativität und Motivation beeinflussen ebenfalls den Lebenserfolg.

Gene, Umwelt und Intelligenzentwicklung

  • Die Intelligenzentwicklung wird durch die Eigenschaften des Kindes selbst, durch die unmittelbare Umgebung und durch den breiteren gesellschaftlichen Kontext beeinflusst.
  • Ein wichtiger Einfluss auf den IQ ist das genetische Erbe. Dieser Einfluss vergrößert sich meistens mit dem Alter, zum Teil, weil Gene erst in der späten Kindheit und im Jugendalter zur Ausprägung kommen, und zum Teil, weil die Gene auch beeinflussen, welche Umgebungen sich das Kind aussucht.
  • Das familiäre Umfeld eines Kindes, wie es mit HOME gemessen werden kann, hängt mit seinem IQ zusammen. Dieser Zusammenhang spiegelt Einflüsse innerhalb der Familie wider, etwa die intellektuelle und emotionale Unterstützung der Eltern für das jeweilige Kind, aber auch interfamiliäre Einflüsse, beispielsweise Unterschiede hinsichtlich Bildung und Wohlstand der Eltern.
  • Der Schulbesuch wirkt sich positiv auf den IQ und die Schulleistungen aus.
  • Allgemeine gesellschaftliche Faktoren wie Armut und Diskriminierung ethnischer Minderheiten beeinflussen den IQ von Kindern ebenfalls.
  • Um die negativen Auswirkungen der Armut zu mindern, gab es in den USA sowohl kleinere vorschulische Interventionsprogramme als auch das weit umfangreichere Projekt Head Start. Beide bewirken zu Anfang positive Veränderungen von Intelligenz und Schulleistung, die mit der Zeit jedoch verblassen. Langfristig haben die Programme jedoch anhaltende positive Auswirkungen in dem Sinn, dass die Wahrscheinlichkeit, nicht sitzenzubleiben und die Highschool erfolgreich abzuschließen, steigt.
  • Intensive Interventionsprogramme wie das Carolina-Abecedarian-Projekt, die im ersten Lebensjahr der Kinder einsetzen und optimale Bedingungen der Kindesbetreuung und strukturierte inhaltliche Lehrpläne bieten, haben zu nachhaltigen Intelligenzsteigerungen geführt, die bis in das Jugend- und Erwachsenenalter hineinreichen.

Alternative Ansätze zur Intelligenz

  • Neue Ansätze zur Intelligenz, beispielsweise Gardners Theorie der multiplen Intelligenzen oder Sternbergs Theorie der Erfolgsintelligenz, sind Versuche, traditionelle Intelligenzkonzepte zu erweitern.

Der Erwerb schulischer Fähigkeiten: Lesen, Schreiben und Mathematik

  • Bereits vor dem Schuleintritt lernen viele Kinder die Buchstabenbezeichnungen und erwerben phonologische Bewusstheit . Beides korreliert mit der späteren Leseleistung, wobei die phonologische Bewusstheit einen kausalen Faktor darstellt.
  • Die Worterkennung gelingt durch zwei Strategien: phonologische Rekodierung und visuell gestützten Gedächtnisabruf.
  • Das Leseverstehen verbessert sich durch die Automatisierung der Worterkennung, weil dies kognitive Ressourcen für das Textverstehen freisetzt. Weitere Einflüsse auf das Leseverständnis sind der Einsatz von Strategien, metakognitives Verständnis und Inhaltswissen, außerdem das Ausmaß, in dem Eltern ihren Kindern vorlesen, und das Ausmaß, in dem die Kinder später selbst lesen.
  • Auch wenn viele Kinder schon im Vorschulalter mit dem Schreiben anfangen, bleibt gutes Schreiben für die meisten Kinder noch jahrelang recht schwierig. Ein Großteil der Schwierigkeit resultiert aus der Tatsache, dass die Kinder beim Schreiben gleichzeitig ihre Aufmerksamkeit auf Low-Level-Prozesse wie Rechtschreibung und Zeichensetzung und auf High-Level-Prozesse wie die Antizipation dessen, was der Leser bereits weiß und was nicht, richten müssen.
  • Die Automatisierung der grundlegenden Prozesse, der Einsatz von Strategien, metakognitives Verständnis und Inhaltswissen beeinflussen das Schreiben ebenso wie das Lesen.
  • Die meisten Kinder verwenden beim Rechnen lernen mehrere Strategien, beispielsweise das Abzählen von eins ausgehend und den Abruf der fertigen Lösungen aus dem Gedächtnis. Sie wählen die Strategien je nach Situation und verwenden die zeitaufwendigeren und mühsameren Strategien nur bei schwierigeren Aufgaben, bei denen sie diese Strategien für die richtige Lösung brauchen.
  • Die genaue Repräsentation der unterschiedlichen Zahlengrößen ist entscheidend beim Rechnen lernen sowie beim Erwerb weiterer mathematischer Fertigkeiten.
  • Im weiteren Umgang mit Mathematik kommt dem Verständnis grundlegender Begriffe eine wachsende Bedeutung zu. So muss man das Konzept der mathematischen Gleichheit verstehen, um Probleme der Arithmetik und Algebra zu bewältigen, die über bloßes Rechnen hinausgehen.
  • Mathematikangst kann die Leistung und das Lernen beeinträchtigen, weil erhöhte emotionale Anspannung die Ressourcen des Arbeitsgedächtnisses reduziert.

Zur Kapitelübersicht

 

9. Kapitel: Theorien der sozialen Entwicklung

Vier Haupttypen von Theorien der sozialen Entwicklung bieten kontrastierende Ansichten von der sozialen Welt der Kinder.

Psychoanalytische Theorien

  • Die psychoanalytische Theorie von Freud hatte einen sehr großen Einfluss auf die Entwicklungspsychologie und die Psychologie als Ganzes, und zwar vor allem wegen Freuds Betonung der Bedeutung früher Erfahrungen für die Persönlichkeit und die soziale Entwicklung, seiner Darlegung unbewusster Motive und Prozesse und seinem Hinweis auf die Bedeutung enger Beziehungen.
  • Erikson erweiterte Freuds Theorie, indem er acht Stufen der psychosozialen Entwicklung identifizierte, die sich über die gesamte Lebensspanne erstrecken. Auf jeder Stufe wird eine Entwicklungskrise erlebt, die erfolgreich gelöst werden muss, damit das Individuum nicht auch im späteren Leben von dieser Krise beeinträchtigt bleibt.

Lerntheorien

  • Watson glaubte stark an die Macht von Umweltfaktoren, insbesondere die Verstärkung, als Einflussquelle der Kindesentwicklung.
  • Skinner nahm an, dass sich jegliches Verhalten durch operante Konditionierung erklären ließe. Er entdeckte die Bedeutung der intermittierenden Verstärkung und den mächtigen Verstärkungswert der Aufmerksamkeit.
  • In Banduras Theorie des sozialen Lernens und seinen empirischen Forschungsarbeiten wird die Bedeutung von Beobachtungslernen und Kognition beim sozialen Lernen betont.

Theorien der sozialen Kognition

  • Theorien der sozialen Kognition liegt die Annahme zugrunde, dass insbesondere das Wissen und die Überzeugungen der Kinder von entscheidender Bedeutung für die soziale Entwicklung sind.
  • Selman ging seiner Theorie zufolge davon aus, dass Kinder bei der Entwicklung der Fähigkeit, die Rolle oder Perspektive einer anderen Person einzunehmen, vier Phasen durchlaufen. Diese schreiten von der einfachen Anerkennung der Tatsache, dass jemand anderes eine Perspektive haben kann, die sich von der eigenen unterscheidet, bis zu der Fähigkeit voran, sich die Perspektive eines „generalisierten Anderen“ vorzustellen.
  • In dem Ansatz der sozialen Informationsverarbeitung werden die Attributionen der Kinder im Hinblick auf ihr eigenes Verhalten und das Verhalten anderer betont. Die Rolle solcher Ursachenzuschreibungen spiegelt sich deutlich in dem von Dodge beschriebenen feindlichen Attributionsfehler wider, der Kinder dazu bringt, anderen feindliche Absichten zu unterstellen und in Situationen, in denen die Absicht von anderen nicht eindeutig ist, aggressiv zu reagieren.
  • Dwecks Theorie der Selbstattribution stellt auf die Zuschreibungen der Kinder ab, die Gründe für ihre Erfolge oder Misserfolge sind und ihre Leistungsmotivation beeinflussen. Kinder mit einer Veränderbarkeits- und Bewältigungsorientierung arbeiten gerne an herausfordernden Aufgaben und neigen dazu, sie beharrlich lösen zu wollen; Kinder mit einer Unveränderbarkeits- und Hilflosigkeitsorientierung ziehen hingegen Situationen vor, in denen sie eigene Erfolge erwarten, und neigen dazu, sich beim Erleben von Fehlschlägen zurückzuziehen.

Ökologische Entwicklungstheorien

  • In ethologischen Theorien wird das Verhalten innerhalb eines evolutionären Kontexts untersucht, und es wird versucht, seinen adaptiven Wert (seinen Überlebenswert) zu verstehen. Die Forschungen von Konrad Lorenz über die Prägung waren für bestimmte Theorien über die soziale Entwicklung von Kindern besonders relevant.
  • Evolutionspsychologen wenden Darwins Konzepte der natürlichen Selektion auf das menschliche Verhalten an. Charakteristisch für ihren Ansatz sind die Theorie der elterlichen Investition und die Vorstellung, dass die lange Phase der Unreife und Abhängigkeit in der menschlichen Kindheit kleine Kinder in die Lage versetzt, viele der Fähigkeiten, die sie später im Leben benötigen, zu lernen und einzuüben.
  • Bronfenbrenner stellt die Umwelt in seinem bioökologischen Modell anhand ineinander geschachtelter Ebenen dar, in deren Zentrum sich das Kind befindet. Diese Ebenen reichen vom Mikrosystem, das die Aktivitäten, Rollen und Beziehungen umfasst, an denen ein Kind regelmäßig und direkt teilnimmt, bis zum Chronosystem, dem historischen Kontext, der sich auf alle anderen Systeme auswirkt.

Zur Kapitelübersicht

 

10. Kapitel: Emotionale Entwicklung

Die Entwicklung von Emotionen in der Kindheit

  • Die Theorie diskreter Emotionen basiert auf der Annahme, dass sich evolutionär eine ganze Reihe von biologischen und neurologischen Reaktionen auf die Umwelt entwickelt haben und es einen Kernbestand an grundlegenden Emotionen gibt, den Menschen universell über alle Kulturen hinweg auf die gleiche Weise erleben. Im Gegensatz dazu glauben Funktionalisten, dass Emotionen das widerspiegeln, was Individuen in spezifischen Situationen zu tun versuchen – also ihre momentanen Anliegen und Ziele – und dass es keine Grundausstattung mit angeborenen, abgegrenzten Emotionen gibt, sondern viele Emotionen, die auf vielen verschiedenen Interaktionen der Menschen mit der sozialen Welt beruhen. Wie bei anderen Aspekten der Entwicklung gibt es auch hier Belege, die sowohl die Anlage (diskrete Emotionen) als auch die umweltbezogenen (funktionalistischen) Interpretationen von Emotionen unterstützen.
  • Die Forschung hat sechs grundlegende Emotionen identifiziert: Freude, Angst, Wut, Traurigkeit, Überraschung und Ekel. Jede dieser Emotionen kann schon bei Säuglingen zuverlässig identifiziert werden, und man geht davon aus, dass jede dieser Emotionen sowohl für das Überleben als auch für die soziale Kommunikation eine wichtige Rolle spielt.
  • Emotionen unterliegen in den ersten Lebensmonaten und -jahren deutlichen Veränderungen. Das Lächeln wird im zweiten bis dritten Lebensmonat sozial, und
    mit der kognitiven Entwicklung ändern sich die Auslöser für das Lächeln und Lachen der Kinder.
  • Angst tritt im Alter von sechs bis sieben Monaten erstmals auf, z. B. sind die Kinder beunruhigt, wenn Fremde sich ihnen nähern. Im Alter von ungefähr acht Monaten beginnen sie, Trennungsangst zu zeigen, wenn sie von ihren Eltern getrennt sind.
  • Traurigkeit, Überraschung und Ekel treten schon im ersten Lebensjahr auf. Wie oft und mit welchen Reizen die Kinder jedes dieser Gefühle zum Ausdruck bringen, ist eng mit ihrer Heimat und ihrem kulturellen Umfeld verbunden.
  • Die selbstbezogenen Emotionen – Schuld, Scham, Eifersucht, Empathie, Stolz und Verlegenheit – entstehen im zweiten Lebensjahr. Ihr Auftreten ist Teil der Entwicklung eines rudimentären Selbstbewusstseins und des ersten Erkennens der Reaktionen anderer Menschen auf die eigene Person.

Das Verständnis von Emotionen

  • Ein wichtiger Aspekt der emotionalen Entwicklung ist das Verständnis der Kinder für verschiedene Arten von Emotionen, was sie bedeuten und was sie jeweils hervorruft. Diese Fähigkeiten sind wichtig für eine erfolgreiche Interaktion mit anderen Menschen in ihrer Umgebung. Im Alter von zwölf Monaten sind die Säuglinge in der Lage, soziale Referenzierungen vorzunehmen.
  • Bis zum Alter von drei Jahren zeigen Kinder eine rudimentäre Fähigkeit, emotionsbezogene Wörter zur Kennzeichnung von Gesichtsausdrücken zu verwenden.
  • Das Verständnis der Kinder für die Situationen, die Emotionen auslösen, für die Ausdrucksregeln und für die Komplexität emotionaler Erfahrungen nimmt im Vorschul- und Grundschulalter zu.

Die Regulierung von Emotionen

  • Die emotionale Selbstregulation umfasst eine Reihe von bewussten und unbewussten Prozessen, die sowohl zur Kontrolle als auch zur Modulation emotionaler Erfahrungen und Äußerungen eingesetzt werden. Die emotionale Regulierung entwickelt sich allmählich im Verlauf der Kindheit und ebnet den Weg für erfolgreiche soziale Interaktionen sowie schulischen Erfolg.
  • Kleine Kinder sind noch nicht in der Lage, ihre Emotionen selbst zu regulieren, und müssen sich darauf verlassen, dass Erwachsene ihnen helfen, ihre Emotionen mithilfe der sogenannten „Co-Regulierung“ in den Griff zu bekommen. Ab dem fünften Monat können Säuglinge jedoch in Stresssituationen ein selbstberuhigendes und selbstablenkendes Verhalten an den Tag legen. Die Verbesserungen des kindlichen Regulierungsvermögens basieren auf den zunehmenden Fähigkeiten, den eigenen Körper und die kognitive Entwicklung zu steuern, ebenso wie auf Veränderungen der Erwartungen Erwachsener.
  • Emotionale Selbstregulation geht im Allgemeinen mit höherer sozialer Kompetenz und geringem Problemverhalten einher.

Die Rolle der Familie für die emotionale Entwicklung

  • Die emotionale Entwicklung der Kinder wird indirekt durch die Qualität ihrer frühen sozialen Beziehungen und durch die Art, wie die Eltern ihre eigenen Gefühle äußern, beeinflusst.
  • Säuglinge reagieren sehr negativ, wenn ihre Mütter emotional nicht auf sie eingehen, wie in Experimenten nach dem Still-Face-Paradigma (unbewegten Gesichtern) deutlich wird.
  • Die emotionale Sozialisation der Kinder wird aktiv von den Eltern unterstützt, indem sie ihnen vermitteln, welcher Ausdruck von Emotionen unter welchen Bedingungen angemessen ist, und so die Fähigkeit zur Regulierung von Emotionen fördern.
  • Kulturelle Faktoren haben einen Einfluss darauf, welche Emotionen von den Eltern als wertvoll unterstützt werden. Der Ausdruck von bestimmten Emotionen wird in einigen Kulturen stärker gefördert oder unterdrückt als in anderen.

Temperament

  • Das Temperament – individuelle Unterschiede in Bezug auf Emotionen, Arousal (Aktivitätsniveau) und Aufmerksamkeit in verschiedenen Kontexten – ist relativ stabil, kann sich jedoch im Laufe der Zeit ändern.
  • Das Temperament kann durch Laboruntersuchungen oder durch Elternberichte gemessen werden; beide Strategien haben Stärken und Schwächen.
  • Es wird angenommen, dass das Temperament sowohl von genetischen als auch von Umweltfaktoren bestimmt wird.
  • Kinder entwickeln sich am besten, wenn zwischen ihrem Temperament und ihrer Umgebung eine hohe Anpassungsgüte besteht.
  • Bei einigen Kindern ist die differenzielle Suszeptibilität stark ausgeprägt, sodass sie sich unter schwierigen Bedingungen sehr schlecht, unter bereichernden Bedingungen jedoch sehr gut entwickeln.

Psychische Gesundheit, Stress und internalisierte Störungen

  • Psychische Gesundheit umfasst das Wohlbefinden von Kindern sowohl innerlich, z. B. in Bezug auf ihre Emotionen und ihr Stressniveau, als auch äußerlich, z. B. in ihren Beziehungen zu Familienmitgliedern und Gleichaltrigen.
  • Stress ist zwar adaptiv und in geringem Maß förderlich für die Entwicklung, z. B. um eine Reaktion auf ein bedrohliches Ereignis zu ermöglichen, kann aber problematisch werden, wenn er wiederholt über lange Zeiträume oder in toxischer Konzentration auftritt.
  • Bei Kindern, die Schwierigkeiten mit ihren emotionalen Reaktionen auf ihre Umwelt haben, spricht man von einer psychischen Störung. Dieselbe psychische Störung kann durch unterschiedliche Risikofaktoren bei verschiedenen Menschen verursacht werden (Äquifinalität); das Vorhandensein eines Risikofaktors führt jedoch nicht immer zu einer Störung (Multifinalität).
  • 3 % aller Kinder und Jugendlichen auf der ganzen Welt leiden unter Depressionen, die eine Kombination aus bedrückter oder gereizter Stimmung einerseits sowie physiologischen und kognitiven Veränderungen andererseits umfassen, die die Fähigkeiten, normale Interaktionen einzugehen, beeinträchtigen. Depressionen scheinen sowohl biologische als auch umweltbedingte Ursachen zu haben.
  • 7 % aller Kinder leiden an einer Angststörung, die mit einer übermäßigen und unkontrollierbaren Furcht vor oder Sorge über reale oder vermeintliche Bedrohungen einhergeht. Angst manifestiert sich in der frühen Kindheit typischerweise als Trennungsangststörung und in der späteren Kindheit und Jugend als Panikstörung und Agoraphobie.
  • Sowohl Depressionen als auch Angststörungen können erfolgreich mithilfe von Psychotherapie, medikamentöser Behandlung oder einer Kombination aus beidem behandelt werden.

Zur Kapitelübersicht

 

11. Kapitel: Bindung und die Entwicklung des Selbst

Die Bindung zwischen Kindern und ihren Bezugspersonen

  • Harlow demonstrierte durch Studien mit Affen, dass Affenbabys eine „Stoffmutter“ brauchen und diese einer Drahtmutter, die Nahrung liefert, vorziehen; sie benutzen die Stoffmütter als sichere Basis für Erkundungen.
  • Nach der Theorie von Bowlby beruht Bindung auf einem biologischen Prozess, der seine Wurzeln in der Evolution hat und die Überlebenschancen des hilflosen Kleinkindes erhöht. Eine sichere Bindung bietet dem Kind außerdem eine sichere Basis zur Exploration. Die frühen Eltern-Kind-Interaktionen führen zu einem inneren Arbeitsmodell für Beziehungen.
  • Die Qualität der kindlichen Bindung an ihre primäre Bezugsperson wird in dem Fremde-Situation-Test nach Ainsworth gemessen. Die Kinder werden typischerweise als sicher gebunden oder unsicher gebunden (unsicher-ambivalent, unsicher-vermeidend) oder als desorganisiert-desorientiert eingestuft. Kinder sind eher sicher gebunden, wenn ihre Betreuungspersonen einfühlsam sind und auf ihre Bedürfnisse reagieren.
  • Es bestehen über viele Kulturen hinweg Ähnlichkeiten zwischen den Bindungen der Kinder, wobei die Anteile der Kinder in den einzelnen Bindungskategorien manchmal zwischen Kulturen oder Subkulturen variieren.
  • Der Bindungsstatus der Eltern und ihr Arbeitsmodell für Beziehungen hängen mit der Qualität ihrer Bindung zu ihren Kindern zusammen. Von der Kindheit bis ins Erwachsenenalter scheint es eine gewisse Kontinuität der Bindung zu geben, sofern in der Zwischenzeit keine gravierenden Ereignisse wie Scheidung, Krankheit, Kindesmisshandlung oder mütterliche Depression auftreten.
  • Interventionsprogramme zeigen, dass Eltern geschult werden können, bei ihrer Erziehung sensibler, aufmerksamer und motivierender zu sein. Diese Veränderungen sind mit einer Zunahme der Kontaktfreudigkeit, der Erkundungsbereitschaft, der Fähigkeit zur Selbstberuhigung und der Bindungssicherheit von Säuglingen verbunden.

Das Selbst

  • Die Vorstellungen kleiner Kinder von sich selbst sind sehr konkret – sie beruhen auf körperlichen Merkmalen und sichtbarem Verhalten – und sind ausnahmslos positiv. Mit zunehmendem Alter basieren Selbstkonzepte verstärkt auf inneren Qualitäten und der Qualität der Beziehungen zu anderen; sie werden zudem realistischer, integrierter, abstrakter und komplexer.
  • Weil sich Jugendliche auf das konzentrieren, was andere über sie denken, stellen sie sich ein „imaginäres Publikum“ vor und entwickeln „persönliche Fabeln“.
  • Das Selbstwertgefühl von Kindern wird durch viele Faktoren beeinflusst, darunter genetische Veranlagung, die Qualität der Beziehungen des Kindes zu Eltern und Gleichaltrigen, körperliche Attraktivität, schulische Fähigkeiten und verschiedene soziale Faktoren.
  • Vorstellungen, wie eine Person sein sollte, variieren zwischen Kulturen, was zur Folge hat, dass sich die Messwerte von Selbstbewertung und Selbstwertgefühl zwischen verschiedenen Kulturen unterscheiden.
  • Zur Entwicklung einer ethnischen Identität während der Kindheit gehört es, sich selbst als ein Mitglied der ethnischen Gruppe zu erkennen, ein Verständnis für die Konstanz der ethnischen Zugehörigkeit zu entwickeln, ethnisches Rollenverhalten zu zeigen, Wissen über die eigene ethnische Gruppe zu erwerben und ein Zugehörigkeitsgefühl zur ethnischen Gruppe zu entwickeln. Familie und Gemeinschaft beeinflussen diese Entwicklungsaspekte.
  • In der Adoleszenz beginnen Jugendliche aus Minderheiten häufig, die Bedeutung ihrer Ethnizität und deren Rolle für ihre Identität zu erforschen. Viele Jugendliche ethnischer Minderheiten neigen anfänglich zu diffusen oder übernommenen Identitäten. Dann interessieren sie sich zunehmend für das Erkunden ihrer eigenen Ethnizität (Suche/Moratorium). Einige Jugendliche werden ihre Ethnizität akzeptieren und sich sogar für sie begeistern (erarbeitete ethnische Identität); andere fühlen sich von der mehrheitlichen Kultur angezogen; und wieder andere werden bikulturell.
  • Jugendliche sexueller Minderheiten (Schwule, Lesben, Bisexuelle) sind anderen Jugendlichen in ihrer Identitäts- und Selbstentwicklung ähnlich, sehen sich jedoch besonderen Schwierigkeiten gegenüber. Viele sind sich der Anziehung durch Gleichgeschlechtliche schon ab der mittleren Kindheit bewusst. Der Prozess der Selbstetikettierung und Offenlegung bei homosexuellen Jugendlichen vollzieht sich in mehreren Phasen, vom ersten Anerkennen über Testen und Erkunden, Identitätsakzeptanz bis zur Identitätsintegration. Jedoch durchlaufen nicht alle Individuen alle diese Stufen, und vielen fällt es schwer, ihre Sexualität zu akzeptieren und sie gegenüber anderen offenzulegen.

Zur Kapitelübersicht

 

12. Kapitel: Die Familie

Familienstruktur

  • Die Familienstruktur in den Vereinigten Staaten hat sich in den letzten Jahrzehnten stark verändert: Die Eltern sind bei der Geburt ihres ersten Kindes älter, mehr Kinder werden von alleinstehenden Müttern geboren, Familien sind kleiner, Scheidungen und Wiederverheiratungen kommen häufig vor.
  • Jugendliche Eltern stammen überproportional häufig aus ärmeren Verhältnissen. Die Erziehung durch jugendliche Mütter ist im Allgemeinen weniger effektiv als durch ältere Mütter, und ihre Kinder laufen Gefahr, Schul- und Verhaltensprobleme zu entwickeln sowie kriminell und zu früh sexuell aktiv zu werden. Die Kinder von jugendlichen Müttern entwickeln sich besser, wenn ihre Mütter mehr über Erziehung wissen und wenn die Kinder selbst eine warme, engagierte Beziehung zu ihren Vätern haben.
  • Es gibt keine Belege dafür, dass sich Kinder, die bei lesbischen oder schwulen Eltern aufwachsen, von Kindern heterosexueller Eltern unterscheiden, was ihre Anpassung oder ihre sexuelle Orientierung betrifft.
  • Obwohl sich die meisten Kinder nach der elterlichen Scheidung gut an die neue Situation anpassen, erleben einige Kinder anhaltende negative Folgen. Der zentrale Faktor, der zu negativen Folgen bei Scheidungskindern beiträgt, sind feindliche, dysfunktionale Familieninteraktionen, zu denen ein anhaltender Konflikt zwischen den ehemaligen Partnern gehört.
  • Die Wiederverheiratung der Eltern kann sowohl positive Auswirkungen auf die Kinder haben, z. B. größere finanzielle Ressourcen und einen neuen vertrauenswürdigen
    Erwachsenen in ihrem Leben, als auch negative Auswirkungen, z. B. vermehrte Konflikte in der Familie. Für Kinder ist es am besten, wenn alle Eltern sie unterstützen.

Familiendynamik

  • Eltern sozialisieren ihre Kinder durch direkte Unterweisung, als Modelle für Fähigkeiten, Einstellungen und Verhalten sowie dadurch, dass sie die Erfahrungen und das soziale Leben der Kinder organisieren.
  • Erziehungsmaßnahmen, die logisches Argumentieren betonen, werden von den Kindern eher als sinnvoll akzeptiert. Zudem wurden solche Erziehungsmaßnahmen mit größerer Sozialkompetenz in Verbindung gebracht. Körperliche Strafen wie Schläge können im Laufe der Zeit eher unerwünschtes Verhalten bei Kindern hervorrufen.
  • Forscher haben mehrere Typen von Erziehungsstilen unter Bezugnahme auf die Dimensionen Wärme und Kontrolle identifiziert. Ein Erziehungsstil, bei dem Eltern Wärme und Kontrolle in guter Balance halten, wird als autoritativer Erziehungsstil bezeichnet und scheint am besten geeignet zu sein, die soziale Kompetenz der Kinder zu fördern.
  • Die Bedeutung und die Auswirkungen der verschiedenen Erziehungsstile oder Erziehungspraktiken können sich von Kultur zu Kultur unterscheiden.
  • Die Erziehungsstile und die Erziehungspraktiken werden durch die Eigenschaften der Kinder beeinflusst, insbesondere durch ihr Verhalten und ihr Temperament.
  • Wirtschaftliche Stressoren können die Qualität der Interaktionen zwischen den Eltern und zwischen Eltern und Kind verschlechtern sowie das Risiko der Kinder für Depressionen, Schulversagen, Störverhalten und Drogenkonsum erhöhen.
  • Mütter interagieren mit ihren Kindern typischerweise viel mehr als Väter, und das Spiel der Väter mit ihren Kindern ist körperbetonter als das der Mütter. Die Art der Eltern-Kind-Interaktionen ist jedoch von Kultur zu Kultur verschieden.
  • Geschwister lernen voneinander, können sich gegenseitig Unterstützung geben und haben manchmal Streit miteinander. Sie kommen besser miteinander zurecht, wenn sie gute Beziehungen zu ihren Eltern haben und sich gegenüber ihren Geschwistern nicht zurückgesetzt fühlen.

Kindesmisshandlung

  • Kinder, die misshandelt werden, sind dem Risiko ausgesetzt, kognitive Verzögerungen, antisoziales Verhalten und psychische Probleme zu entwickeln.
  • Es gibt auch Hinweise darauf, dass Misshandlung zu langfristigen Veränderungen der Gehirnstruktur und -funktionen führt. Die häufigste Form der Misshandlung von Kindern ist Vernachlässigung.

Der sozioökonomische Kontext von Familien

  • Das Verhalten und die Erziehungsmethoden der Eltern werden weitgehend durch ihren kulturellen Hintergrund beeinflusst, die Auswirkungen der verschiedenen Methoden und Verhaltensweisen ähneln sich allerdings über die verschiedenen Kulturen weitgehend.
  • Das Verhalten der Eltern und damit auch die Entwicklung der Kinder werden durch die finanziellen Ressourcen der Familie beeinflusst. Fast 20 % der Kinder in den Vereinigten Staaten stammen aus armen Familien, was das Risiko erhöht, dass sie kognitive Probleme und Verhaltensauffälligkeiten entwickeln.
  • Kinder und Mütter ziehen einige Vorteile aus der Berufstätigkeit der Mütter, die nur wenige negative Auswirkungen auf die Kinder hat, wenn die Kinder eine qualitativ akzeptable Betreuung bekommen und von gut ausgebildeten Erwachsenen angeleitet und beaufsichtigt werden. Junge Eltern in den Vereinigten Staaten müssen die schwierige Entscheidung treffen, ob sie zu Hause bleiben oder arbeiten wollen, da viele Eltern keine Möglichkeit haben, bezahlte Elternzeit zu nehmen.
  • Kinder in qualitativ hochwertigen Betreuungseinrichtungen weisen eine günstigere kognitive und sprachliche Entwicklung auf als Kinder in weniger guten Einrichtungen. Ob die Unterbringung des Kindes gute oder schlechte Auswirkungen auf das Verhalten des Kindes hat, hängt vermutlich teilweise von Eigenschaften des Kindes, von seiner Beziehung zur Mutter und von der Qualität der Betreuung ab.

Zur Kapitelübersicht

 

13. Kapitel: Beziehungen zu Gleichaltrigen

Das Spiel

  • Spielen bezieht sich auf freiwillige Aktivitäten, die Kinder ohne besondere Beweggründe, zu ihrem eigenen Vergnügen, ausüben. Es hat sich gezeigt, dass das Spiel der sozialen, emotionalen, kognitiven und körperlichen Entwicklung von Kindern zugutekommt. Kinder beteiligen sich mit zunehmendem Alter an immer komplexeren Formen des sozialen Spiels.
  • Spiel bildet die Grundlage für Interventionen, die Kindern helfen sollen, mit psychischen Problemen oder Traumata umzugehen. Theoretiker wie Piaget, Wygotski und Sullivan haben behauptet, dass die Aspekte Gleichberechtigung, Reziprozität, Kooperation und Vertrautheit, die viele Peer-Beziehungen kennzeichnen, die kindlichen Fähigkeiten zum logischen Denken und zur Sorge um andere Menschen verbessern.

Freundschaften

  • Kinder freunden sich zumeist mit Gleichaltrigen an, die ihnen in Bezug auf Alter, Geschlecht und Ethnie und Verhaltensweisen wie Aggressivität, Geselligkeit und Kooperationsbereitschaft ähneln – obwohl jeder dieser Faktoren weniger wichtig ist, wenn die Kinder in die Pubertät kommen.
  • Schon sehr kleinen Kindern bevorzugen manche Kinder gegenüber anderen. Kleinkinder und Vorschulkinder spielen mit Freunden komplexere und kooperativere Spiele als mit Nichtfreunden. Da sie mehr Zeit miteinander verbringen, streiten sie auch häufiger miteinander.
  • Die Vorstellung von Freundschaft ändert sich bei Kindern mit dem Alter. Jüngere Kinder definieren Freundschaft vorwiegend auf der Basis der tatsächlichen Aktivitäten mit ihren Peers. Mit zunehmendem Alter werden auch Aspekte wie Loyalität, gegenseitiges Verständnis, Vertrauen, kooperative Gegenseitigkeit und Selbstoffenbarung wichtige Komponenten von Freundschaften.
  • Mit zunehmendem Alter, besonders, wenn sie in die Pubertät kommen, sind Freundschaften stärker von Selbstoffenbarung und Nähe geprägt.
  • Die elektronische Kommunikation erleichtert sowohl den Aufbau als auch die Pflege von Freundschaften, vor allem, weil sie durch ihre ständige Verfügbarkeit den Kindern ein Gefühl der Kontrolle vermittelt, Spaß macht und anonym sein kann.
  • Freunde zu haben, wirkt sich positiv auf die Entwicklung sozialer Kompetenz und auf Anpassungsleistungen aus. Freunde können sich jedoch auch negativ auf Kinder auswirken, wenn sie problematische Verhaltensweisen wie Gewalt oder Drogenmissbrauch zeigen.
  • Das Ausmaß, in dem Erwachsene Kinder zum Spielen mit nicht verwandten Peers ermutigen, unterscheidet sich stark zwischen Kulturen; Gleiches gilt für das Ausmaß, in dem Eltern erwarten, dass ihre Kinder soziale Fähigkeiten im Umgang mit Peers entwickeln (z. B. verhandeln, Initiative ergreifen, für ihre Rechte einstehen). Die Anzahl von Stunden, die Kinder mit nicht verwandten Peers verbringen, variieren beträchtlich zwischen den Kulturen.
  • Unter bestimmten Umständen kann die Peergroup zur Entwicklung von antisozialem Verhalten, Alkohol- und Drogenkonsum beitragen. Allerdings können sich Jugendliche, die selbst zu solchen Verhaltensweisen neigen, auch Peers aussuchen, die dies noch verstärken.
  • Mobbing ist eine relativ häufige Erfahrung unter Kindern und Heranwachsenden. Kinder, die Mobbing-Täter werden, tun dies, um Macht und Status zu erlangen. Kinder, die Opfer von Mobbing werden, leiden in der Regel sowohl unter Verhaltens- als auch unter psychischen Problemen.

Status in der Peergroup

  • Auf der Basis soziometrischer Urteile wurden Kinder typischerweise in die Kategorien beliebt, abgelehnt, ignoriert, durchschnittlich und kontrovers eingeteilt.
  • Der Status von Kindern in einer größeren Peergroup variiert in Abhängigkeit von ihrem Sozialverhalten, ihrem Denken über soziale Interaktionen und ihrer körperlichen Attraktivität.
  • Beliebte Kinder, die von ihren Peers gemocht werden, sind meistens sozial geschickt, prosozial und in ihrem Ausdruck von Emotion und Verhalten gut reguliert. Kinder hingegen, die als „beliebt“ im Sinne eines hohen Status wahrgenommen werden, sind häufig aggressiv und werden nicht immer wirklich gemocht.
  • Kinder, die von ihren Peers abgelehnt werden, sind häufig entweder aggressiv oder sozial verschlossen. Abgelehnt-aggressive Kinder haben geringe soziale Fähigkeiten, unterstellen anderen oft feindliche Absichten und verfügen nicht über konstruktive Strategien für den Umgang mit schwierigen sozialen Situationen. Verschlossene Kinder, die im Kindergartenalter abgelehnt werden, fühlen sich tendenziell eher isoliert, einsam und mit der Zeit depressiv.
  • Ignorierte Kinder – die von ihren Peers als weder positiv (gemocht) noch negativ (nicht gemocht) bezeichnet werden – sind meistens weniger gesellig, aggressiv und störend als durchschnittliche Kinder. Sie zeigen kaum Verhaltensweisen, die sich von denen vieler anderer Kinder auffallend unterscheiden, und scheinen von den anderen Kindern einfach nicht wahrgenommen zu werden.
  • Kontroverse Kinder haben meistens die Eigenschaften sowohl beliebter als auch abgelehnter Kinder: Sie neigen zu Aggressivität und störendem Verhalten und werden leicht wütend, sind häufig aber auch hilfsbereit, kooperativ, gesellig, sportlich und witzig.
  • Im Allgemeinen weisen beliebte oder abgelehnte Kinder in zahlreichen Kulturen ähnliche Eigenschaften auf. Ein sehr zurückhaltendes Verhalten kann in einigen ostasiatischen Kulturen jedoch höher geschätzt sein; in China wurde es bis vor Kurzem von anderen als ein Zeichen sozialer Kompetenz gewertet.

Die Rolle der Eltern bei den Peer-Beziehungen der Kinder

  • In Übereinstimmung mit den Vorhersagen der Bindungstheorie sind sicher gebundene Kinder in ihrem Verhalten und ihrem Affekt meistens positiver; sie sind sozial geschickter und werden mehr gemocht als unsicher gebundene Kinder.
  • Die Eltern von sozial kompetenten und beliebten Kindern verwenden bei den Interaktionen mit ihren Kindern häufiger als die Eltern weniger kompetenter Kinder warmherzige Kontrolle, positive Verbalisierungen, logische Argumente und Erklärungen. Sie haben mehr positive Überzeugungen über die Fähigkeiten ihrer Kinder. Wahrscheinlich verlaufen die kausalen Verknüpfungen zwischen der Qualität der Erziehung und der sozialen Kompetenz der Kinder in beide Richtungen; und wahrscheinlich spielen sowohl umweltbedingte als auch biologische Faktoren bei der Entwicklung der sozialen Kompetenzen von Kindern im Umgang mit ihren Peers eine Rolle.
  • Positive Beziehungen zu Eltern können einen Puffer für Kinder gegenüber negativen Auswirkungen von Peer-Beziehungen bilden.

Zur Kapitelübersicht

 

14. Kapitel: Moralentwicklung

Moralisches Denken und Urteilen

  • Piaget beschrieb zwei altersabhängige Moralstadien und eine Übergangsphase. Im ersten Stadium, dem der heteronomen Moral, neigen kleinere Kinder zu der Überzeugung, dass Regeln unabänderlich sind, und sie gewichten die Folgen von Handlungen stärker als die Absichten, wenn sie die Moralität von Handlungen beurteilen. Im autonomen Stadium erkennen die Kinder, dass Regeln soziale Produkte und als solche veränderbar sind, und sie berücksichtigen Motive und Absichten, wenn sie Verhalten bewerten. Mehrere Aspekte der Theorie Piagets konnten der Kritik nicht gut standhalten, doch diente seine Theorie als Grundlage für Nachfolgearbeiten über das moralische Denken.
  • Kohlberg skizzierte drei Ebenen des moralischen Urteils – die präkonventionelle, konventionelle und postkonventionelle Moral –, die jeweils zwei Stufen umfassen (wobei Stufe 6 bei dem Einstufungsverfahren schließlich aufgegeben wurde). Kohlberg nahm an, dass seine Stufenfolge altersabhängige, diskontinuierliche (qualitative) Veränderungen des moralischen Denkens und Urteilens widerspiegelt, die universell gültig sind. Nach Kohlberg resultieren diese Veränderungen aus kognitiven Fortschritten, insbesondere in Bezug auf die Fähigkeit zur Übernahme von Perspektiven. Zwar gibt es Unterstützung für die Vorstellung, dass moralisches Denken auf höherer Ebene mit kognitiver Entwicklung zusammenhängt, aber es ist nicht erkennbar, dass das moralische Denken aller Kinder diese diskontinuierlichen Entwicklungsstufen durchläuft oder sich in allen Kulturen in dieser Art entwickelt.
  • Die Bereichstheorie des sozialen Urteils argumentiert, dass das moralische Urteilsvermögen von Kindern stark von ihrer Umwelt beeinflusst wird, insbesondere von der Sozialisation durch die Eltern und von den Interaktionen mit Peers. Diese Theorie baut auf der Erkenntnis auf, dass das menschliche Sozialwissen in drei Bereiche unterteilt werden kann. Der moralische Bereich spiegelt universelle Konzepte von Fairness, Gerechtigkeit und Rechten wider. Der Bereich der sozialen Konventionen umfasst Regeln und Konventionen, die von einer bestimmten Kultur vorgegeben werden, und der persönliche Bereich bezieht sich auf die Entscheidungen des Einzelnen über sich selbst.
  • Das Gewissen umfasst internalisierte moralische Normen und Schuldgefühle für Fehlverhalten: Es hält das Individuum davon ab, inakzeptables Verhalten an den Tag zu legen. Das Gewissen entwickelt sich langsam über die Zeit, bereits beginnend vor dem zweiten Geburtstag. Kinder internalisieren die elterlichen Normen eher, wenn sie sicher gebunden sind und wenn ihre Eltern bei der Erziehung nicht zu sehr auf elterliche Gewalt setzen, wobei auch das Temperament der Kinder Einfluss hat.

Prosoziales Verhalten

  • Prosoziales Verhalten ist freiwilliges Verhalten zugunsten anderer, z. B. Helfen, Teilen und Trösten. Jüngere Kinder, die sich prosozial verhalten, insbesondere, wenn sie von sich aus von etwas abgeben, das für sie selbst wertvoll ist, sind in der Regel auch in höherem Alter prosozial.
  • Prosoziales Verhalten tritt erstmals im zweiten Lebensjahr auf und wird mit dem Alter häufiger, wahrscheinlich infolge altersabhängiger Erhöhungen der Fähigkeit zur Anteilnahme und zur Übernahme der Perspektive anderer. Unterschiede zwischen Kindern in Bezug auf diese Fähigkeiten tragen zu den individuellen Unterschieden des prosozialen Verhaltens der Kinder bei.
  • Die Vererbung, die zu Temperamentsunterschieden zwischen Kindern beiträgt, wirkt sich wahrscheinlich darauf aus, wie empathisch und prosozial Kinder sind.
  • Eine positive Eltern-Kind-Beziehung, ein autoritativer Erziehungsstil, der Einsatz vernünftiger Argumente durch Eltern und Lehrer sowie der Kontakt mit prosozialen Modellen, Werten und Aktivitäten gehen mit der Entwicklung von Empathie, Mitgefühl
    und prosozialem Verhalten einher. Auch kulturelle Werte und Erwartungen scheinen sich darauf auszuwirken, in welchem Ausmaß und wem gegenüber Kinder prosoziales Verhalten zeigen.
  • Schulische Interventionsprogramme zur Förderung von Kooperation, Perspektivenübernahme, Hilfsbereitschaft und prosozialen Werten sowie zur Einübung von Autonomie hängen mit einer Verstärkung prosozialer Tendenzen bei Kindern zusammen.

Antisoziales Verhalten

  • Aggressives Verhalten tritt bereits im ersten Lebensjahr auf und wird in den Folgejahren häufiger; die Häufigkeit körperlicher Aggressionen nimmt im Kindergartenalter langsam wieder ab. In der Grundschule neigen Kinder mehr zu nichtkörperlicher Aggression (z. B. Beziehungsaggression) als in jüngerem Alter, und einige Kinder begehen zunehmend antisoziale Handlungen wie Stehlen.
  • Vom Kindergartenalter an sind Jungen körperlich aggressiver als Mädchen und häufiger an delinquentem Verhalten beteiligt.
  • Frühe interindividuelle Unterschiede bei der Aggression und bei Verhaltensproblemen sagen das antisoziale Verhalten in der späteren Kindheit, in der Adoleszenz und im Erwachsenenalter voraus.
  • Biologische Faktoren, die zu den Unterschieden zwischen Kindern in Bezug auf das Temperament und auf neurologische Störungen beitragen, wirken sich wahrscheinlich darauf aus, wie aggressiv Kinder werden. Auch die sozialen Kognitionen beeinflussen die Aggressivität: Aggressive Kinder unterstellen anderen oft feindselige Motive und verfolgen selbst feindselige Ziele.
  • Die Aggression von Kindern wird durch eine Reihe von Umweltfaktoren gefördert; dazu gehören geringe Unterstützung durch die Eltern, schlechte Beaufsichtigung, misshandelnde, auf Zwang beruhende oder inkonsequente Erziehung sowie Stress oder Konflikte in der Familie. Außerdem trägt der Umgang mit antisozialen Peers zum antisozialen Verhalten bei, wobei sich aber auch aggressive Kinder antisoziale Peers aussuchen können. Aggression variiert ein wenig zwischen den Kulturen; das lässt vermuten, dass auch kulturelle Werte, Normen und Erziehungspraktiken zu den individuellen Unterschieden der Aggression und des antisozialen Verhaltens beitragen können.
  • Kinder, bei denen man antisoziales Verhalten wie soziale Verhaltensstörungen (CD) und oppositionelles, aufsässiges Verhalten (ODD) diagnostiziert, zeigen vergleichsweise schwerwiegende Formen problematischen externalisierenden Verhaltens.
  • Interventionen in Risikoschulen wurden zur Förderung des Verstehens und der Kommunikation von Emotionen, von positivem Sozialverhalten, Selbstbeherrschung
    und sozialem Problemlösen entwickelt; sie können die Wahrscheinlichkeit verringern, dass Kinder Verhaltensprobleme ausbilden, einschließlich Aggression.

Zur Kapitelübersicht

 

15. Kapitel: Die Entwicklung der Geschlechter

Geschlecht und Gender

  • Das biologische Geschlecht (sex) beschreibt die Unterscheidung zwischen genetisch weiblichen (XX) und genetisch männlichen (XY) sowie andere genetische Geschlechtskategorisierungen; das soziale Geschlecht (gender) gibt die soziale Zuordnung oder Selbstkategorisierung als weiblich oder männlich (oder keines von beiden) an.
  • Um zwischen verschiedenen Geschlechtsidentitäten zu unterscheiden, wird eine Vielzahl von Begriffen verwendet, darunter cisgender, transgender, nichtbinär (genderqueer), genderfluid, bigender und agender.
  • Um zu beschreiben, wie das Geschlecht sozialisiert wird, spricht man z. B. von Gendertypisierung, was sich auf den Prozess der geschlechtsspezifischen Sozialisierung während der Entwicklung bezieht. Begriffe wie geschlechtsübergreifend und nicht geschlechtskonform beschreiben Verhaltensweisen, die den Stereotypen für das einer bestimmten Person zugeschriebene Geschlecht widersprechen.
  • Die Forschung hat Geschlechterunterschiede in einigen Bereichen aufgezeigt, z. B. bei kognitiven Fähigkeiten, Persönlichkeitsmerkmalen und sozialen Verhaltensweisen, aber diese Unterschiede sind eher gering, und es gibt oft beträchtliche Überschneidungen zwischen den Geschlechtern. Hyde argumentiert in seiner Hypothese der Geschlechterähnlichkeit, dass die Ähnlichkeiten zwischen den Geschlechtern bei den meisten Merkmalen bei Weitem überwiegen würden.

Theoretische Perspektiven der Geschlechterentwicklung

  • Die biosoziale Theorie betrachtete die Wirkung evolutionär entstandener biologischer Unterschiede zwischen Frauen (die gebären und stillen können) und Männern (die mehr Körperkraft haben und schneller und größer sind) in ihren Beziehungen zur Sozialökologie.
  • Der neurowissenschaftliche Ansatz zur Geschlechterentwicklung betont die Unterschiede zwischen männlichen und weiblichen Gehirnen und den Einfluss von Sexualhormonen wie Androgenen auf die Entwicklung vor und nach der Geburt.
  • Ein weiterer Ansatz befasst sich mit den Theorien zu kognitiven und motivationalen Einflüssen auf die Geschlechterentwicklung. Dazu gehören die kognitive Entwicklungstheorie, die Theorie der Geschlechterschemata, die Theorie der sozialen Identität und die sozial-kognitive Theorie. Alle diese Theorien unterstreichen die aktive Beteiligung der Kinder beim Erlernen der Geschlechterrollen und beim Übernehmen der Präferenzen und Verhaltensweisen, die für ihr jeweiliges Geschlecht als angemessen gelten. Alle Theorien dieser Gruppe beschreiben die Geschlechterentwicklung weitgehend als einen Prozess der Selbstsozialisierung der Kinder.
  • Nach der kognitiven Entwicklungstheorie richten Kinder, sobald sie erkannt haben, dass ihr Geschlecht von Situation zu Situation dasselbe bleibt (Geschlechtskonstanz), ihre Aufmerksamkeit auf Vorbilder des eigenen Geschlechts, um zu lernen, wie sie sich zu verhalten haben.
  • Nach der Theorie der Geschlechterschemata konstruieren Kinder Geschlechterschemata auf der Grundlage ihrer eigenen Erfahrung und der geschlechtsbezogenen Vorstellungen, mit denen sie konfrontiert sind, und sie beginnen, Interesse an gleichgeschlechtlichen Menschen und deren Werten zu entwickeln, sobald sie ihre eigene Geschlechtszugehörigkeit identifizieren können. Danach beachten sie alles, was sie für ihr Geschlecht angemessen finden, mit größerer Aufmerksamkeit und lernen mehr darüber.
  • Die sozial-kognitive Theorie befasst sich mit vielen Prozessen, die zum Erlernen der geschlechtstypischen Werte und Verhaltensweisen gehören, insbesondere mit dem Beobachten des Verhaltens anderer und der Reaktionen, mit denen andere oder sie selbst auf das beobachtete Verhalten antworten. Kinder verinnerlichen Standards wie die geschlechtstypischen Normen und benutzen sie, um ihr eigenes Verhalten zu überwachen.
  • Auch die Theorie der sozialen Identität hebt die Bedeutung des Übernehmens einer Geschlechtsidentität hervor. Kinder neigen danach zu Eigengruppenverzerrungen
    (Ingroup-Bias), d. h., sie bevorzugen geschlechtsbezogene Merkmale ihrer gleichgeschlechtlichen Ingroup und setzen Konformität mit den Geschlechterrollen und -normen durch.
  • In zwei neuere theoretische Ansätze wurde der Versuch unternommen, Aspekte der biologischen, kognitiven, motivationalen, situationsbedingten und kulturellen Einflüsse auf die Geschlechterentwicklung zu integrieren. Die entwicklungspsychologische Intergruppentheorie (DIT) beschreibt, wie verschiedene Prozesse zur Entwicklung von Stereotypen und Vorurteilen aufgrund des Geschlechts einer Person beitragen. Das Modell der geschlechtsspezifischen Selbstsozialisation (GSSM) betont, dass die Bemühungen von Kindern, eine Identität zu bilden und die Welt um sie herum zu verstehen, zu ihrer geschlechtsspezifischen Entwicklung beitragen.
  • Das bioökologische Modell stellt die Kindesentwicklung anhand einer Hierarchie sozialer Systeme dar, die vom Mikrosystem (der unmittelbaren Umwelt) bis zum Makrosystem (der Gesellschaft) reichen. Ein wichtiges Merkmal des Makrosystems ist die Opportunitätenstruktur, die Frauen- und Männerrollen einschließt und Einfluss darauf hat, wie Mädchen und Jungen sozialisiert werden. In der Theorie sozialer Rollen wird der Einfluss der Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern in einer Gesellschaft auf die Entwicklung von Mädchen und Jungen betrachtet.

Meilensteine der Geschlechterentwicklung

  • In der pränatalen Entwicklung beginnt die sexuelle Differenzierung sechs bis acht Wochen nach der Konzeption. Gegen Ende des ersten Schwangerschaftsdrittels sind die äußeren und inneren Geschlechtsorgane normalerweise vollständig entwickelt.
  • Während ihres ersten Lebensjahres lernen Säuglinge, die Gesichter von Männern und Frauen zu unterscheiden. Mit zwei bis drei Jahren kennen Kinder ihre eigene Geschlechtszugehörigkeit und beginnen, Stereotype über Männer und Frauen zu erwerben. Ungefähr in diesem Alter fangen sie auch an, geschlechtstypische Spiele und Spielzeuge zu bevorzugen.
  • Während der Vorschuljahre beginnen Kinder, die Gesellschaft mit gleichgeschlechtlichen Peers zu bevorzugen, und bis in die Adoleszenz bleibt eine ausgeprägte Neigung zur selbst initiierten Geschlechtertrennung bestehen. Vorschulkinder bilden für jedes Geschlecht bestimmte Verhaltens- und Merkmalsstereotype aus und bevorzugen verstärkt geschlechtstypische Spiele.
  • Mit ungefähr sechs Jahren entwickeln Kinder Geschlechtskonstanz. In der mittleren Kindheit kommen Kinder außerdem zu der Einsicht, dass Geschlechterrollen soziale Konventionen sind. Sie können nun auch verstehen, dass Geschlechterdiskriminierung unfair ist, und eine Diskriminierung, wenn sie auftritt, erkennen. Jetzt lassen sich Unterschiede des Sozialverhaltens der Geschlechter anhand von Mittelwertabweichungen feststellen: Jungen setzen eher auf Selbstbehauptungsstrategien und Mädchen bevorzugen die Affiliation bzw. Beziehungsaufnahme oder kombinieren sie mit der Selbstbehauptungsstrategie.
  • Die Adoleszenz ist eine Phase, in der Geschlechterrollen zuweilen flexibler werden (aufgrund wachsender kognitiver Flexibilität), zuweilen aber auch rigider (aufgrund des Interesses am anderen Geschlecht und der Übernahme konventioneller Geschlechterrollen).

Muster der Geschlechterentwicklung

  • Bis zur Pubertät, die bei Mädchen früher einsetzt als bei Jungen, ähnelt sich die körperliche Entwicklung von Jungen und Mädchen. Einige der größten Geschlechterunterschiede nach der Pubertät betreffen die Körperkraft, die Schnelligkeit und die Körpergröße. Außerdem gibt es moderate Unterschiede beim körperlichen Aktivitätsniveau.
  • Mädchen und Jungen erzielen in Tests der allgemeinen Intelligenz ähnliche Ergebnisse. Allenfalls kleine Mittelwertunterschiede wurden bei spezifischen kognitiven Fähigkeiten gefunden: Jungen erreichen bei bestimmten Arten des räumlichen Denkens und bei mathematischen Fähigkeiten tendenziell etwas bessere Testleistungen, Mädchen schneiden zumeist bei den sprachlichen Fähigkeiten etwas besser ab. Bei der schulischen Leistung tendieren Mädchen beim Lesen und Schreiben zu besseren Leistungen als Jungen, während Jungen in Mathematik und in den Naturwissenschaften zu besseren Leistungen tendieren als Mädchen. In der schulischen Leistung insgesamt zeigen Mädchen tendenziell bessere Ergebnisse.
  • Biologische, kognitiv-motivationale und kulturelle Einflüsse könnten zu den Unterschieden schulischer Gesamtleistungen beider Geschlechter beitragen. In verschiedenen Untersuchungen zeigte sich, dass die schulische Leistung in bestimmten Bereichen mit den Erwartungen der Eltern, Peers und Lehrer zusammenhängt. Die Leistungsunterschiede zwischen beiden Geschlechtern in den MINT-Fächern haben sich in den vergangenen Jahrzehnten deutlich verringert, und in Gesellschaften, die insgesamt von größerer Gleichberechtigung der Geschlechter gekennzeichnet sind, sind sie besonders klein.
  • In Bezug auf die Kommunikation und auf interpersonelle Ziele haben sich die Mittelwertunterschiede zwischen den Geschlechtern während der Kindheit und Jugend als gering erwiesen. Jungen betonen stärker als Mädchen Selbstbehauptung und Macht als Ziele in ihren sozialen Beziehungen, während Mädchen mehr als Jungen Vertrautheit und Unterstützung bevorzugen.
  • Direkte (körperliche und verbale) Aggression ist mit Mittelwertunterschieden zwischen den Geschlechtern verbunden, bei denen die Effektstärken gering sind; direkte Aggression macht bei Jungen einen etwas höheren Anteil im Verhältnis zur indirekten Aggression aus als bei Mädchen. Bei der indirekten Aggression (wie soziales Ausschließen anderer oder negativer Klatsch über andere) zeigt sich kein signifikanter Unterschied zwischen den Geschlechtern im Hinblick auf die mittlere Auftretenshäufigkeit. Allerdings macht indirekte Aggression im Verhältnis zur direkten Aggression bei Mädchen einen etwas höheren Anteil aus als bei Jungen. Dabei könnten Unterschiede der Selbstregulation auch mit dem verhältnismäßig höheren Anteil direkter Aggression bei Jungen zusammenhängen. Auch kognitive und motivationale Faktoren spielen eine wichtige Rolle. Einige kulturelle Unterschiede des Ausmaßes der Geschlechterunterschiede im Hinblick auf direkte Aggression hängen mit der Akzeptanz entsprechender Verhaltensweisen (einschließlich sexueller Belästigung) innerhalb der jeweiligen Kulturen zusammen.

Zur Kapitelübersicht